Die verschobene Elternrolle: Warum Verbundenheit wichtiger denn je ist
In einer Welt, die immer schneller wird und in der bereits kleine Kinder immer mehr Zeit außer Haus verbringen, sehen sich viele Eltern vor der Herausforderung, ihre Rolle in der Erziehung neu zu finden. Ich habe mit genug Eltern gesprochen, die das Gefühl haben, ihre Kinder würden ihnen nach und nach entgleiten. Die moderne Kultur hat das Wort “Familie” zu einem Witz degradiert – sie vermittelt Eltern, dass sie nur dazu in der Lage seien, ihre Kinder von einem Experten zum nächsten zu bringen. Doch gerade in dieser Zeit, in der die äußeren Einflüsse auf Kinder zunehmen, ist unsere Verbindung als Familie essenziell. Unsere Beziehungen zueinander sind der ausschlaggebende Faktor für eine gelingende Erziehung und eine stabile, gesunde Entwicklung unserer Kinder.
Wie können wir als Eltern also das Gefühl der Verbundenheit stärken und eine vertrauensvolle, beständige Bindung aufbauen? Hier sind einige Gedanken und praktische Ansätze, um unsere Elternrolle als zentrale Orientierung im Leben unserer Kinder zu festigen.
1. Die Herausforderung der Gleichaltrigenorientierung
Gleichaltrigenorientierung beschreibt das Phänomen, dass Kinder zunehmend auf die Meinung und das Verhalten ihrer Freunde und Altersgenossen fixiert sind. Diese Orientierung führt oft dazu, dass Werte, Verhaltensweisen und sogar die Sprache von den Gleichaltrigen übernommen werden. Eltern fühlen sich dabei manchmal wie Beobachter, die kaum mehr Einfluss auf das Leben und die Gedanken ihrer Kinder haben.
Hinter dieser Verschiebung steckt oft der Wunsch der Kinder, zu einer Gruppe zu gehören und anerkannt zu werden. Diese Gruppenzugehörigkeit gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit, das aber auf sozialen Vergleichen und dem Wunsch nach Bestätigung basiert. Die Gefahr dabei ist, dass Kinder emotional von ihren Eltern entkoppelt werden und sich in einer Zeit, in der sie Orientierung und Beständigkeit besonders nötig haben, eher an Gleichaltrigen orientieren, die selbst noch keine stabilen Werte oder eine gefestigte Persönlichkeit haben.
Um diesen Herausforderungen zu begegnen, ist es notwendig, dass wir Eltern eine starke, liebevolle und präsente Beziehung zu unseren Kindern aufbauen, die ihnen Halt und Sicherheit bietet. Eine solche Beziehung ist das Fundament dafür, dass Kinder sich in ihrer Familie zuhause fühlen und diese als emotionalen Rückzugsort und als Orientierung sehen. Wir müssen uns unsere Rolle als primäre Bezugspersonen zurückholen!
2. Zeit als Kernstück für die Verbindung: Wie wir sinnvoll miteinander umgehen
Ein wesentlicher Schlüssel, um unsere Familienbande zu stärken, liegt in der gemeinsamen Zeit. Doch in unserer hektischen Alltagswelt fehlt es oft genau daran: Eltern und Kinder sind in ihren eigenen Verpflichtungen gefangen, und die gemeinsame Zeit reduziert sich auf die Stunden am Abend oder am Wochenende. Wie können wir also die Zeit, die wir zusammen haben, sinnvoll und verbindend gestalten?
Routinen für gemeinsame Zeit schaffen
Rituale und Routinen sind ein einfaches, aber wirkungsvolles Mittel, um Verlässlichkeit und Nähe zu schaffen. Ein tägliches Abendessen ohne Ablenkungen, ein gemeinsamer Wochenendspaziergang oder eine feste Vorlesezeit am Abend geben dem Tag Struktur und stärken die Verbundenheit. Solche Momente bieten den Rahmen, um miteinander ins Gespräch zu kommen und eine vertraute Atmosphäre zu schaffen.
Bildschirmfreie Zeiten einführen
Bildschirme und digitale Medien sind allgegenwärtig, aber sie sind oft Hindernisse für echte Verbindung. Ver-binden können wir uns nur dann, wenn wir voll und ganz im Hier und Jetzt sind. Eine einfache Regel könnte sein, dass beim gemeinsamen Essen keine Handys benutzt werden oder dass am Wochenende Zeit im Freien verbracht wird, ohne digitale Ablenkung.
Qualität UND Quantität: Was wirklich zählt
Manchmal geht es nicht darum, stundenlang zusammen zu sein, sondern darum, wie diese Zeit gestaltet wird? Das habe ich oft in Ratgebern gelesen, und es mag seine Daseinsberechtigung haben. Wenn man stundenlang im selben Raum sitzt, ohne sich miteinander zu beschäftigen, ist es sicher sinnvoller, wenige intensive Momente gemeinsam zu verbringen. Sollte die “Quality time” jedoch nicht den gewünschten Effekt haben, liegt das wahrscheinlich daran, dass eine vertrauensvolle, auf Liebe und Respekt basierende Beziehung Zeit braucht - viel Zeit. Denn Aufmerksamkeit ist das größte Geschenk, das wir jemandem machen können. Es zählt beides. Qualität ist wichtig, aber ohne Quantität taugt sie nicht viel.
3. Gemeinsames Reflektieren und Werte teilen
Werte sind der innere Kompass, der uns im Leben Orientierung gibt. Doch Werte werden nicht durch Vorträge oder Predigten vermittelt, sondern durch Vorleben und gemeinsame Reflexion. Eltern spielen hier eine zentrale Rolle, da sie den Kindern ein Beispiel für Werte wie Ehrlichkeit, Mitgefühl, Verantwortungsbewusstsein und Respekt geben.
Über Werte sprechen
Das offene Gespräch über Werte und Haltungen kann ganz natürlich im Alltag entstehen. Eine einfache Frage wie „Warum ist uns das wichtig?“ oder „Wie würden wir uns in dieser Situation fühlen?“ kann dazu führen, dass unsere Kinder andere Perspektiven verstehen und eigene Überlegungen anstellen. Unsere Kinder sollten wissen, warum wir bestimmte Dinge tun und welche Überzeugungen dahinterstehen – das gibt ihnen Orientierung und Klarheit. Aber auch hier spielt der Faktor Zeit eine Rolle. Nehmt euch die Zeit, mit euren Kindern zu sprechen und ihnen zu erklären, wie die Welt funktioniert.
Gemeinsame Entscheidungen treffen
Indem wir unsere Kinder in Entscheidungsprozesse einbeziehen, lernen sie Verantwortung und bekommen die Gelegenheit, ihre eigenen Wertvorstellungen zu entwickeln. Auch kleinere Entscheidungen wie die Planung eines Familienausflugs oder das gemeinsame Zubereiten einer Mahlzeit können wertvolle Lerngelegenheiten sein, bei denen Kinder sich eingebunden und respektiert fühlen.
Zusammen die Welt entdecken
Unsere Kinder sind von Natur aus neugierig, und als Eltern können wir sie unterstützen, diese Neugier in einer positiven Weise zu entwickeln. Gemeinsame Erlebnisse, sei es in der Natur, durch Bücher oder durch kulturelle Erkundungen, ermöglichen unseren Kindern, die Welt auf eine Weise zu erleben, die ihren Horizont erweitert und ihre Denkweise prägt. Solche Erlebnisse bieten oft auch Anlass für Gespräche über unterschiedliche Werte und Perspektiven.
4. Aktiv gemeinsame Erlebnisse gestalten
Hierbei geht es nicht um spektakuläre Ausflüge, sondern vielmehr um einfache, echte Momente des Zusammenseins, die sowohl Freude bereiten als auch einen Rahmen für Gespräche und Nähe schaffen.
Raus in die Natur
Zeit in der Natur hat eine beruhigende Wirkung und fördert die Achtsamkeit. Ein Spaziergang im Wald, ein Besuch im Park oder das Beobachten der Jahreszeiten verbinden uns mit unserer Umwelt und bieten eine schier unendliche Menge an Gesprächsstoff. Kinder entwickeln so eine starke Beziehung zur Natur, die sie für das Leben prägt und ihre Wertschätzung für die Welt um sie herum fördert.
Lesen und Sprechen
Vorlesen ist nicht nur eine schöne Abendroutine, sondern auch eine Möglichkeit, um ins Gespräch zu kommen und über Geschichten und Figuren zu reflektieren. Geschichten schaffen einen sicheren Raum, in dem unsere Kinder sich mit anderen Welten und Perspektiven auseinandersetzen können, und geben Anlass für Gespräche über Werte, Handlungen und Lebensfragen. Gemeinsames Lesen stärkt nicht nur die Bindung, sondern ist auch eine wertvolle Förderung der Fantasie und des Sprachverständnisses.
Handwerkliche und kreative Projekte
Kreative Aktivitäten und handwerkliche Projekte bieten eine hervorragende Gelegenheit, gemeinsam etwas zu schaffen und dabei Geduld, Problemlösung und Zusammenarbeit zu üben. Ob gemeinsames Kochen, Basteln oder Malen – solche Aktivitäten ermöglichen es unseren Kindern, sich auszudrücken.
Eine Beziehung aufbauen, die die Zeit überdauert
Moderne Erziehung stellt uns Eltern vor neue Herausforderungen, doch die Prinzipien einer gelingenden Erziehung bleiben dieselben: eine stabile, liebevolle Beziehung, gemeinsame Werte und bewusste, verbundene Zeit. Indem wir uns auf das Miteinander einlassen, schenken wir unseren Kindern nicht nur Orientierung, sondern auch Vertrauen, das sie in allen Lebenslagen begleitet. Letztlich ist es die Beziehung zueinander, die eine gelingende Erziehung ausmacht – eine Beziehung, die uns und unsere Kinder gleichermaßen bereichert und für das Leben stärkt.